Klassen, die mich länger haben, müssen schon lachen, wenn ich mit meiner alten Ficus-Benjamin-Geschichte daherkomme. Ich finde aber, es ist eine schöne Geschichte. Und eine wichtige. Aber dazu etwas später.
Zuerst aber eine Aufgabe für dich: Überlege dir drei Stärken.
Eine, wo du gut im Denken bist. Also z.B. gut im Kopfrechnen, Vokabellernen, Schach, …
Eine Stärke, wo du „körperlich“ gut bist. Zeichnest du gut, spielst du gut Fußball, tanzt du, …?
Eine Herzens-Stärke. Bist du hilfsbereit, kannst du gut mit kleinen Kindern umgehen, …
Hast du die drei? Am besten schreibst du sie auf.
Und jetzt möchte ich, dass du dir überlegst, wie du deine drei Stärken siehst, jede einzeln.
Sind sie eher wie ein Rohdiamant, dem du „nur“ noch den nötigen Feinschliff verpassen musst?
Oder eher wie ein – vielleicht noch kleines – Pflänzchen, um das du dich kümmern musst, das du gießt und pflegst, und das noch wachsen kann? Du ahnst schon, hier kommt jetzt bald mein Ficus Benjamin (die Pflanze am Bild) ins Spiel.
Es gibt hier übrigens kein richtig oder falsch. Es geht einzig darum, wie du deine Stärken oder ich nenne sie auch einmal Begabungen siehst. Ich kann dir aber eines verraten, wie du sie siehst, beeinflusst, wie du damit umgehst. Besonders dann, wenn es einmal ein bisschen schwieriger wird.
Ich möchte dir dafür ein Beispiel geben, meinen kleinen Bruder. (Zugegeben ist er einige Zentimeter größer als ich, aber da er 18 Jahre jünger ist, darf ich ihn so nennen.)
Mein kleiner Bruder war als Jugendlicher ein hervorragender Sportler, er besuchte das Sportgymnasium in Maria Enzersdorf, spielte Tennis auf sehr hohem Niveau, war im Fußball und im Handball in der Landesauswahl. Es gab, denke ich, kaum jemand, der ihn nicht als sportliches Talent gesehen hatte, besonders in den Ballsportarten. Er selbst wohl auch.
Ich war sein erster Tennislehrer. Bei einem Camp, er war etwa 11 Jahre alt, zeigte ich ihm einen sehr schwierigen Schlag, den man normalerweise in dem Alter noch gar nicht lernt. Er probierte ihn dreimal, dann sagte er, den kann ich nicht. Zuerst musste ich lachen, weil ich diesen Schlag tausende Male geübt und geschlagen hatte und immer noch Fehler machte. So konnte ich ihn überreden, es nochmal zu probieren, weitere drei Mal, dann war Schluss.
Damals habe ich das nicht verstanden, warum er in ähnlichen Situationen immer wieder so reagiert hat. Heute bin ich mir ziemlich sicher, es lag daran, wie er seine eigene Begabung gesehen hat. Für ihn war seine Begabung wie ein Rohdiamant. Ein bisschen Feinschliff war ok, aber wirklich hart daran zu arbeiten, das kam für ihn nicht in Frage. Denn wenn du einen wertvollen Diamanten hast, musst du doch nicht hart arbeiten, du bist schon reich. Für ihn hätte hart zu arbeiten, hart zu trainieren geheißen, dass sein Diamant nicht so wertvoll ist, wie er dachte, sein Talent nicht so groß, wie er glaubte. Und wer will das schon?
Siehst du, was das Problem sein kann, wenn du deine Stärken nur als Diamant siehst, der nur noch etwas Feinschliff benötigt? Du könntest unter Umständen nicht bereit sein, daran härter zu arbeiten, besonders dann nicht, wenn es etwas anstrengender wird.
Natürlich war mein Bruder sehr geschickt, aber wir haben, ohne dass uns selbst das bewusst war, auch schon von ganz klein auf mit ihm trainiert. Sein Vater und ich waren Tennisnarren, jede freie Minute am Tennisplatz. Und wenn er einen Ball oder Schläger in die Hand genommen hat, hat sich einer von uns mit ihm beschäftigt, Ball zugeschupft, ihn werfen lassen, …
Und jetzt kommt endlich mein Ficus Benjamin ins Spiel. Zugegeben ist die Geschichte sehr unspektakulär. Mein beim Ikea gekaufter kleiner Ficus Benjamin hatte mehrfach kein einziges Blatt mehr. Ich hatte mich einfach nicht um ihn gekümmert, ihn nicht gegossen, nicht auf ihn geschaut. Mindestens dreimal wollte ich ihn schon wegschmeißen. Dann habe ich noch einen Versuch unternommen, habe ihn an einen guten Platz gestellt mit ausreichend Sonne – aber nicht zu viel – und ich habe ihn endlich regelmäßig gegossen. Das ist nun über 20 Jahre her, die Pflanze gibt es immer noch, ich muss sie regelmäßig stutzen, weil sie an der Decke anstößt. Manchmal stelle ich ihn um, dann kann es sein, dass er ein paar Blätter verliert (oder wenn ich wieder einmal aufs Gießen vergesse). Es ist eine große, gesunde Pflanze daraus geworden, die auch einiges aushält, aber um die ich mich immer noch regelmäßig kümmere.
Du hast natürlich schon längst durchschaut, dass mein Ficus Benjamin ein Bild ist. Ein Bild dafür, wie jemand mit seinen Begabungen umgeht, der sie als Pflanze sieht, die noch wachsen kann und muss. Um die muss man sich kümmern. Manchmal steht die Pflanze einfach an einem falschen Ort, manchmal braucht sie auch einen neuen größeren Topf, in jedem Fall braucht sie Wasser, man kann sie aber auch „ersäufen“.
Gerade wenn du mal anstehst, nichts weitergeht, du denkst, das kann ich nicht, dann empfehle ich dir deine Begabungen als Pflanze zu sehen und zu überlegen, was deine Pflanze braucht, um wieder wachsen zu können. Und dir nicht zu denken, „schade, mein Diamant ist scheinbar doch nicht viel wert“. Schau zum Beispiel auf die Spitzensportler wie Marcel Hirscher oder Roger Federer, die betonen in jedem Interview, wie intensiv sie ihr „Pflänzchen“ pflegen – obwohl es schon so groß(artig) ist. Und welch großes Team ihnen dabei hilft.
Wenn du bis hierher gelesen hast, bist du offensichtlich ohnedies sehr ausdauernd. Ich danke für deine Aufmerksamkeit.
P.S.: Schon öfters haben Schüler zu mir gesagt, sie sehen ihre Begabung wie ein Pflänzchen – aber bei den Wurzeln, da ist ein kleiner Diamant vergraben. Das finde ich ein sehr schönes Bild.
P.P.S: Dieser Text stützt sich auf wissenschaftliche Forschung. Dort spricht man von einem dynamischen (Pflanze) und einem statischen Selbstbild (Diamant) – im englischen: growth mindset vs. fixed mindset. Die führende Wissenschaftlerin auf diesem Gebiet ist die amerikanische Psychologin Carol Dweck, von ihr stammt das auch für Eltern sehr empfehlenswerte Buch Selbstbild. Wie unser Denken Erfolge und Niederlagen bewirkt. (Der deutsche Titel ist das Schlechteste am Buch. Auf Englisch heißt es „Mindset“.)