Eine Geschichte von dunklen Gedanken – aber auch von strahlenden Momenten
Mein Wecker klingelt. Ich wache auf und starre die Wand an.
Ich fühl mich wieder so leer und ich weiß nicht wieso. In der Wohnung ist es still. Die Stille wird von der Stimme meiner Mutter unterbrochen, sie ruft: „Aufstehen! Frühstück ist fertig!“ Beim Aufstehen fühle ich schon, dass dieser Tag schrecklich wird. Ich gehe zuerst ins Badezimmer, ich sehe in den Spiegel und bin wie immer unzufrieden. In der Küche erwartet mich meine Mutter mit dem Frühstück. Auf dem Esstisch steht eine Vase mit gelben Rosen. „Ich wünschte, ich wäre auch so bunt“, denke ich und esse weiter. Auf dem Weg zur Schule denke ich nochmal über die gelben Rosen nach: Warum fühl‘ ich mich in letzter Zeit so ? Warum kann ich nicht so eine fröhliche und bunte Ausstrahlung haben wie die Rosen? Ich sehe immer alles in Schwarz-Weiß und merke nicht wie bunt die Welt ist.
Als ich in der Schule ankomme, sehe ich einen Jungen aus meiner Klasse. Wir sprechen oft miteinander über gute Dinge und schlechte Dinge. Ich glaube, er weiß es auch nicht, wie ich mich fühle. Niemand weiß es, ich selber auch nicht. Manchmal wünsche ich, dass ich es wüsste, was genau in mir vorgeht. Ich weiß nur, dass ich Angst habe. Wovor ich Angst habe ? Naja, vor dem Versagen, davor, nicht gut genug zu sein – oder vor mir selber. Meine ständige schlechte Laune liegt nicht an meinen Eltern oder an meinen Freunden, ich weiß nicht, woran es liegt, es ist nur da.
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Meine Deutsch-Lehrerin steht vor mir und fragt: „Wo ist deine Hausübung ?“ Oh nein, ich weiß es nicht, wo sie ist. Sofort fange ich an in meiner Schultasche rumzukramen. „Das gibt es ja wohl nicht !“, schreit meine Lehrerin. Ich krame noch einige Sekunden in meiner Schultasche herum und ziehe ein rotes Heft heraus. Als ich der Lehrerin das Heft gebe, verzieht sie nur ihr Gesicht. Ich verstehe nicht, warum sie so wütend auf mich ist, ich meine, es gibt Kinder, die fast nie Hausaufgaben abgeben und diese Kinder beschimpft sie nicht… Die restlichen Stunden vergehen normal, also langweilig.
Beim Nachhausegehen begleitet mich ein Mädchen aus meiner Klasse. Ich bewundere sie sehr. Sie ist wunderschön, schlau und jeder mag sie. Wenn sie in der Nähe ist, fühle ich mich geborgen und in Sicherheit. Ich rede mit ihr auch sehr gerne und ich glaube sie auch mit mir.
Zuhause fühl‘ ich mich wieder so wie immer. Ich mache meine Hausübung und danach lerne ich für den nächsten Test. Um 19:30 Uhr bin ich fertig mit allem. Mir ist fad. Mit zitternder Hand nehme ich mein Handy und rufe das Mädchen aus der Schule an. Wir reden stundenlang. Ich fühle mich das erste Mal seit langer Zeit wieder glücklich. Danach gehe ich schlafen. In meinem Traum bin ich auf einer Insel. Ich liege im warmen Sand und die Sonnenstrahlen wärmen meinen Körper. Man kann das Rauschen des Meeres hören. Die Wind streicht an mir vorbei. Eine Strähne meiner hellbraunen Haare liegt in meinem Gesicht. Langsam bewege ich den Kopf nach links. Neben mir liegt das Mädchen aus der Schule. Sie schaut mir mit ihren blauen Augen tief in meine braunen Augen. Sie fängt an zu lächeln und ich fühle, wie es mir warm ums Herz wird. Es ist so schön.
Mein Traum wird von meinem Wecker unterbrochen, aber diesmal bin ich glücklich. Ich stehe auf und esse. Danach gehe ich in die Schule. Alles verläuft besser.
Am Abend sitze ich auf der Fensterbank und schaue nach draußen. Es scheint eine Straßenlaterne. Meine schmale Gasse ist einsam und ruhig. Ich kippe das Fenster auf, damit frische Luft hereinkommt. Die Wind streicht zärtlich an meinem Gesicht vorbei. Die Luft ist warm, obwohl es heute Nachmittag geregnet hat. Plötzlich höre ich, wie ein Rad auf dem Asphalt fährt. Ich schaue hinaus und sehe den Jungen aus meiner Klasse, mit dem ich jeden Tag in der Früh rede. Er schaut mich an und grinst, danach schreibt er mir auf dem Handy. Meines liegt neben mir, in der Nachricht steht: „Komm raus, ich muss dir was zeigen.“ Ich zögere, aber schließlich gebe ich nach. Ich ziehe einen grauen Hoodie an und klettere aus meinem Fenster. „Komm mit“, flüstert er und nimmt mich an der Hand. Wir gehen zu einem alten Haus und schleichen uns durch den Vorgarten der Gebäude. Dabei gehen wir durch einen Holzbogen, der mit Weinreben bewachsen ist. Neben dem Drahtzaun sprießen gelbe Rosen. Zusammen klettern wir auf dem Drahtzaun hoch. Auf dem Dach des Hauses legen wir uns gemütlich hin. Beim Beobachten der Sterne erzähle ich ihm über meine Gedanken und Gefühle. Es fühlt sich so gut an, ihm darüber zu erzählen. Er hört mir zu. Nach etwa zwei Stunden fahren wir mit seinem Fahrrad nach Hause. Ich steige runter und schaue ihn nochmal an. Der Junge winkt mir nett zu und verschwindet in der Dunkelheit.
Am nächsten Tag denke ich über unsere gemeinsame Zeit nach. Es fühlt sich an, als würde sich alles verbessern. Danach fallen mir die gelben Rosen ein. „Ist das wohl ein Zeichen ?“, frage ich mich. Als ich mit dem Mädchen aus der Schule nach Hause gehe, herrscht zwischen uns Stille:“ Alles gut bei dir?“, frage ich sie. Sie nickt und bleibt leise. Ich fühle mich schuldig. Habe ich etwas Falsches gesagt ? Oder bin ich einfach nicht gut genug für sie als Freundin ? Es schießen mir so viele Fragen und Gedanken durch den Kopf, dass ich nicht bemerke, dass ich schon zu Hause angekommen bin. Na toll, sind jetzt diese Rosen ein Fluch oder ein Segen? Zuhause mach‘ ich meine Hausübung und lerne für die nächsten Wiederholungen. Mir ist wieder langweilig. Im Schneidersitz sitze ich auf meinem Bett und höre traurige Musik. Ich lege mich hin und denk‘ über den Jungen aus meiner Klasse nach. Auf einmal höre ich ein leises Klopfen an meinem Fenster. Es ist er! Der Bub schreit: „Komm raus!“ Schnell eile ich hinaus zu ihm. „Was machst du hier?“ Und er meint nur: „Was machen wir noch hier?“ Ich bin verwirrt. „Bald haben wir Sommerferien, du kannst mit mir zu meiner Oma auf einen Weinberg fahren. Sie wohnt nicht so weit weg und außerdem gibt es dort in der Nähe einen großen See, erzählt er mir begeistert. „Das hört sich gut an, aber ich weiß nicht, was meine Eltern dazu sagen würden, antworte ich. „Frag sie doch einfach, und wenn sie meinen, dass du mit fremden Leuten nirgends hinfahren darfst, dann kannst du mich ihnen ja vorstellen“, schlägt er vor. Ich zögere, so gut kenn‘ ich ihn ja noch nicht. Und trotzdem würde es mir nichts ausmachen mit ihm ans Ende der Welt zu reisen. „Okay, ich frage sie.“. Dann drehe ich mich um und gehe zurück ins Haus.
Zuhause erwartet mich meine Mutter mit verschränkten Armen. „Wir müssen reden“, sagt sie mit ernstem Gesicht. Ich setze mich auf einen Stuhl und starre sie wortlos an. „Deine Noten werden immer schlimmer, du strengst dich nicht so an und du hast auf nichts Lust! Wo ist meine alte Tochter hin, die immer gelächelt hat und Ziele hatte?“, fragt sie mich. Ich schweige. Sie hat recht. Mein Vater kommt währenddessen nach Hause. „Gut, das du schon mit ihr redest, was ist mit dir in letzter Zeit los?“, fragt er nach. Ich weiß genau, was er meint. Diese Leere und dieses Gefühl einsam zu sein, keine Ziele zu haben, wegen Nichts und Niemandem leben zu wollen, dieses Gefühl ist nicht immer da, es ist wie eine Welle, die manchmal auf mich zurast und mich unter sich begräbt. „Ich weiß es nicht“, entgegne ich und breche in Tränen aus. Meine Eltern schauen mich fassungslos an. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen. Meine Mutter realisiert erst jetzt, wie schlimm es mir geht, sie kommt zu mir und umarmt mich. Ich weiß, dass es mir nicht gut geht, obwohl ich gedacht habe, dass es mir schon besser geht. Nun, nachdem meine Eltern mit mir lange darüber geredet haben, fühle ich mich schon viel besser.
„Und, hast deine Eltern gefragt ?“, erkundigt sich der Junge bei mir. „Es tut mir leid, ich bin gestern nicht dazu gekommen“, sage ich ihm mit einem traurigen Blick. „Schade, aber frag sie bitte, es wäre toll, wenn du kommen würdest“, entgegnet er mir mit einem schiefen Lächeln. Ich verziehe auch meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Als ich nach Hause komme, ist die Stimmung nicht die beste. Ich weiß, dass sie nein sagen werden, wenn ich sie jetzt frage, aber ich will unbedingt mit. „Papa, hast du kurz Zeit?“, frage ich meinen Vater. Er schaut zu mir und nickt. Ich erzähle ihm alles über den Jungen und meine Gefühle für ihn, meine Mutter hört auch zu. Sie zögern kurz, aber sie erlauben es schließlich unter der Bedingung, dass ich ihnen ihn und seine Familie vorstelle. Ich bin überglücklich.
Nächsten Sonntag kommt er mit seiner Mutter zum Abendessen. Am Abend sitzen wir alle in unserem Garten bei einem alten Holztisch. Seine Mutter sieht genau so aus wie er, die selben blauen Augen, in denen man fast Angst hat zu ertrinken, wenn man zu lange hineinschaut. Unsere Eltern lernen sich kennen und wir sitzen nur unangenehm berührt da. Nach dem Essen flüstere ich ihm ins Ohr: „Ich muss dir etwas zeigen, komm mit.“ „Wir kommen gleich!“, rufe ich den Erwachsenen zu. Ich nehme ihn an der Hand und ziehe ihn zu meinem Baumhaus, das sich ganz hinten im Garden befindet. Es leuchtet die Lichterkette, die um dem Baum gewickelt ist. Wir klettern hoch. Ich habe wieder eine schöne Zeit mit ihm, bis meine Eltern nach uns rufen.
Die Sommerferien sind da! Ich nehme meinen alten Lederkoffer und packe ihn für die Reise mit ihm. In der Früh kommen sie um mich abzuholen. Ich verabschiede mich von meinen Eltern und steige ins Auto seiner Mutter. Auf der Autofahrt hören wir Musik und machen Pläne für diese vier Tage, die ich bei ihnen bin. Endlich sind wir da. Das Haus seiner Oma ist alt, aber niedlich. Die Sprossenfenster und der kleine Balkon oberhalb der Eingangstüre lassen alles vertrauter wirken. Seine Oma ist sehr nett. Wir bekommen zu zweit ein Zimmer. In der Nacht sitzen wir auf unseren Betten und sprechen. „Hast du eigentlich ein Talent, von dem du mir noch nicht erzählt hast?“, frage ich ihn. „Ja eigentlich schon. Ich kann Gitarre spielen, aber seit Opa tot ist, spiele ich nicht mehr. Er hat es mir beigebracht, als ich noch klein war. Singen tue ich auch gerne“, meint er. Ich wundere mich, er hat es wirklich noch nie erzählt.
Am nächsten Tag ist es sehr warm, deswegen gehen wir zu zweit zum See. Wir lassen unsere Handtücher unter einem hohen Baum. Wir schwimmen und machen Späße. Als wir schon ein bisschen müde sind, setzen wir uns unter den Baum. Ich schaue ihn an, wie er auf das Wasser starrt. Später kommen andere Leute zum See, ein paar Kinder, die herumrennen, Erwachsene, die nur ihre Ruhe haben wollen, Teenager, die miteinander streiten. All diese Leute kommen mir so vor, als würden sie nicht existieren. Als würden sie sich, nachdem sie aus meinem Blickfeld verschwunden sind, einfach in Luft auflösen. Aber seit ich den Jungen kenne, weiß ich, dass das nicht so ist. Er ist nicht nur ein wie so ein Nebencharakter in einem Film, er ist viel mehr… Plötzlich sagt er zu mir: „Wenn du willst, kann ich heute Abend Gitarre spielen.“ „Es würde mich freuen“, sage ich zu ihm.
Am Abend sitzen wir auf der Bank im Garten seiner Oma. Er kommt mit einer alten Holz-Gitarre auf mich zu. Langsam setzt er sich neben mich. Auf der Gitarre ertönt der Song „Tears in Heaven“. Seine Stimme passt perfekt.
„Hat es dir gefallen ?“, fragt er verlegen. „Und ob es mir gefallen hat !“, schreie ich beinahe. Ich nicke und grinse nett. Er erwidert mein Grinsen.
Dieser Sommer ist jetzt schon ein Jahr her und ich habe endlich den Sinn meines Lebens gefunden. Es ist die Musik. Musik ist das BESTE Ding auf diesem Planeten. Egal, was man macht, mit Musik ist es viel schöner. Ohne Musik ist mein Leben wie ein Meer ohne Wasser. Das Beste sind Konzerte, denn wenn man mit so vielen gut gelaunten Leuten vor einer Bühne steht und die Musik, die du magst, laut dröhnt, ist das das schönste Gefühl überhaupt. Bei Konzerten vergesse ich alle meine Probleme, ich bin frei und glücklich.
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Anm.: Jeder von uns hat manchmal „dunkle Gedanken“. Besonders in gewissen Phasen der Jugend ist es auch normal, wenn diese Gedanken gehäufter und stärker auftreten. Wichtig ist, wie diese Geschichte ja auch schön zeigt, dass man mit jemandem reden kann, wenn sie einen zu erdrücken drohen. Wenn du das Gefühl hast, dass sie dich wie eine Welle unter sich begraben, sprich mit jemandem. Wenn das mit deinen Freunden oder Eltern, aus welchem Grund auch immer, nicht geht, dann gibt es auch in der Schule gute Ansprechpersonen: ein Lehrer, dem du vertraust, dein KV, die Bildungsberater, die Schulärztin, unser Schulcoach, … – sie hören dir zu!