„Shit.“ Für gut fünf Minuten ist das das einzige Wort, das auf der Wiener Akademietheaterbühne zu hören ist. Zwei Schicksalsgöttinnen in Weiß gehen, ebendieses murmelnd, barfuß hin und her, Wasser tropft auf die Bühne und man fragt sich, wann sie zu reden beginnen. Mein Freund neben mir wird ungeduldig – „haben‘s den Text vergessen? Kann mal wer das Licht aufdrehen?“ Ein Mann im Polo-Shirt hält empört den Zeigefinger vor die Lippen.
„Shit.“ Nachdem also bewiesen wurde, dass sowohl Autor als auch Theater dem Publikum – rebellisch und hemmungslos, wie sie sind – gehobene Fäkalausdrücke und Anglizismen zutrauen können, geht es los, mit Thomas Köcks „paradies fluten“ (Regie: Robert Borgmann). Eine der beiden auffallend langhaarigen Damen nimmt am Bühnenrand den Platz der Erzählerin ein und lässt als menschliche Sanduhr immer wieder Sand zu Boden rieseln. Erst wird die Zukunft der Erde beschrieben, wie sich die Sonne in den kommenden eineinhalb Millionen Jahren aufbläht und jede uns bekannte Lebensform der größer werdenden Hitze zum Opfer fällt. Dann wird es Zeit für einen Rückblick, in den nächsten drei Stunden gibt es Blutschlachten in Bürokleidung, Kolonialismus in Brasilien und Barocktänze. Danach wird das Publikum Zeuge einer Familientragödie, in der ein Vater eine eigene Kfz-Werkstatt eröffnet und später im Alter stirbt, während die Mutter den Bankrott fürchtet und die Tochter an einer Karriere als Tänzerin bastelt.
Was ich dazu sage?
Nach den geschätzten zweihundert Greenpeace-Flyern, die mir in meinem Leben schon ausgeteilt wurden und den Dystopie-Wellen der letzten Jahre (erinnern wir uns an die Hunger Games, Divergent, etc.) halte ich mich eigentlich für relativ abgebrüht, was dunkle Zukunftsvisionen betrifft.
Aber während sich mir immer Fragen wie: „Wieso sprechen die eigentlich ihre Regieanweisungen mit?“ oder „Wieso muss denn alle zwei Minuten jemand schreien?“ stellen, versinke ich im Laufe des dreistündigen Stücks langsam aber sicher in der fast märchenhaften Erzählung vom Untergang der Welt.
Bald fühle ich mich selbst wie der letzte Mensch, dem rückblendenmäßig vorgeführt wird, was wir auf und mit der Erde alles falsch gemacht haben. Das ist nicht direkt angenehm, aber so wie den aktuellen Notenstand in Physik, muss man es vielleicht trotzdem manchmal zu hören bekommen. Thomas Köcks Charaktere erzählen es mir wenigstens in blumiger, oft Jelinek-ähnlicher Sprache und mit einigen Litern an Kunstblut.
Tatsächlich berührend wird es dann, als die Familie aus Mutter, Vater, Tochter und Oma auftaucht, deren Geschichte von allen vier Seiten beleuchtet wird. Durch sie regt sich in mir der Verdacht, dass Thomas Köck vielleicht doch nicht jeden Menschen für ein geld- und erfolgsgieriges Monster hält. Andererseits stirbt dann aber die Großmutter und die Enkelin geht nicht zum Begräbnis. Dann kommen die Eltern ins Altenheim und die Tochter verkauft das geerbte Haus, noch bevor der Vater stirbt. Ein paar Mal noch zucken Lichtblitze durchs Theater. Dann spricht eine Schauspielerin direkt das Publikum an und erinnert, dass die Zukunft tatsächlich kommen wird. „Sie alle werden einmal hier gesessen sein“, sagt sie und dann ist es aus. Der Mann im Polo-Hemd vor uns springt begeisternd klatschend auf, alle anderen fünfzehn Zuschauer tippen höflich mit den Fingern auf die Handfläche.
„Shit“, murmeln ein paar, denen das Ganze dann doch etwas zu rebellisch war. „Shit“, denke auch ich, verpasse absichtlich den Bus und gehe zu Fuß zum Bahnhof. Eigentlich bin ich ja abgebrüht, was düstere Zukunftsvisionen betrifft, aber der zelebrierte Menschenhass in „paradies fluten“ geht mir dann doch nahe. Ich streichle den Greenpeace-Aufkleber in meiner Geldbörse, stelle fest, dass ich pro erneuerbare Energie bin und habe irgendwo das Gefühl, mit Anschauen dieses Stücks einen direkten Beitrag zur Verbesserung der Menschheit geleistet zu haben. Bleibt abzuwarten, ob und wann Teil zwei und drei aufgeführt werden.